Samstag, 1. November 2008

Erfahrungsschatz

18. Oktober 2008
Ein Blick hinter die Kulissen von christlichen Sondergemeinschaften

Das mag ich: Magazin mit Kleinanzeigen kaufen, in ein Café gehen, Kaffee bestellen, das Magazin aufschlagen, die Inserate lesen. Unter „Bekanntschaften“ trifft man derart tolle Frauen, dass man sich sofort die Frage stellt: Hinter denen müssen die Männer doch in Scharen her sein, woher nehmen die noch die Zeit, um Werbetexte für die eigene unglaublich tolle Persönlichkeit zu verfassen? Unter „Sonstiges“ gibt es stets etwas zum Schmunzeln, wie diese Anzeige: „Wer hat Montag ein Bett geschenkt bekommen?“ Eine Frage, die bis zur zweiten Tasse Kaffee im Raum steht, denn offenbar hat jemand etwas verschenkt, was er jetzt gern wieder hätte. Aber warum - und dann auch noch ein Bett?

Dann fällt mein Blick auf fünf Zeilen, die mit den Worten „Sektenaussteiger gesucht“ beginnen. Dabei denkt der Inserent nicht an neue religiöse Strömungen, sondern an schon lange existierende Glaubensgemeinschaften wie die Zeugen Jehovas, die Neuapostolische Kirche, die Mormonen und die Adventisten. Was haben die denn für Probleme? Frage ich mich und rufe am Abend den Mann aus dem Ruhrgebiet an.

Neuapostolisch sei er gewesen, erzählt er mir, und zwar derart von der Richtigkeit seiner Glaubenssache überzeugt, dass er von Haustür zu Haustür gegangen sei, um andere von seinem Glauben zu überzeugen. Doch das sei schief gegangen. Als er sich schon daran gewöhnt habe, abgewiesen zu werden, sei er von einem Mann hereingebeten worden. Der habe ihm Lesestoff mitgegeben. So habe er Dinge über seine Glaubensgemeinschaft erfahren, von denen er nichts wusste. Also habe er sich an die Priester seiner Gemeinde gewandt. Die hätten geantwortet: „Du hast Gift gegessen.“ Dann habe man noch für ihn gebetet.

Nach diesem Telefongespräch ist mein Interesse geweckt, zumal ich mit einer Männerstimme aufgewachsen bin, die aus in der Kirche aufgehängten Lautsprechern schnarrte: „Ich sterbe nicht. Ihr auch nicht, wenn ihr mir glaubt.“ Die meisten, die das geglaubt haben, sind schon lange tot, der Mann auch. Die Neuapostolische Kirche aber gibt es immer noch - und behauptet weiterhin, dass sie vom Heiligen Geist regiert werde.

Nach dem Gespräch mit dem Mann aus dem Ruhrgebiet nehme ich Kontakt mit der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) auf. Mein Gesprächspartner will mich von dem von mir geplanten Buchprojekt abbringen: „Das sind doch alles nur subjektive Aussagen. Daraus ergibt sich doch kein objektives Bild.“

Es wird nicht mehr lange dauern, bis die EZW Sektenaussteiger an mich verweist. Nach einigen Jahren werden es um die 2000 gewesen sein. Einmal lässt man mir sogar eine Spende in Höhe von 200 Mark für meine Beratungsarbeit zukommen. Anschließend verbitte ich mir die Weitergabe meiner Telefonnummer an Sektenaussteiger. Wenn mich die EZW schon mit den Kosten allein lässt, soll sie sich auch um die Anrufer kümmern. Doch dazu scheinen Theologen nur selten in der Lage zu sein. Sie sind wohl viel zu abgehoben, um Alltagsprobleme zu begreifen.

Eines Nachmittags liegt ein Zettel auf dem Küchentisch. Darauf steht: „Herr X hat angerufen. Er will sich umbringen. Du sollst ihn sofort anrufen.“ Ich fahre zu ihm und rede stundenlang auf ihn ein. Mein Gesprächspartner wird nicht damit fertig, dass Amtsträger der Neuapostolischen Kirche immer noch bei ihm klingeln. „Wenn die da gewesen sind, bekommt er wieder einen epileptischen Anfall“, sagt seine Frau. Ich lasse mir die Telefonnummer eines dieser Amtsträger geben und rufe ihn an. Er antwortet: „Ich muss erst mit der Verwaltung unserer Kirche sprechen, bevor ich eine Entscheidung treffe.“ Das sagt mehr über eine Glaubensgemeinschaft als 1000 bunt bebilderte Broschüren, die es ab Ende der 1980er-Jahre zuhauf gegeben hat. Denn: An der Spitze der Neuapostolischen Kirche steht jetzt ein ehemaliger Werbekaufmann.

Der ändert nicht nur die Werbemethoden. Der sagt auch: „Das Wort Kritik steht nicht in der Bibel, also hat sie bei uns auch nichts zu suchen.“ Nahe liegende Fragen wie „Auch diese Predigt wird per Satellit übertragen, wo in der Bibel steht das Wort Satellit?“ oder „Auslandsreisen macht dieser Prediger mit dem Flugzeug, wo in der Bibel steht das Wort Flugzeug?“ scheinen den Lauschenden nicht in den Sinn zu kommen. Was der da vorne sagt, wird schon stimmen? Wie nur schafft es jemand, dass sich andere Denkverbote auferlegen?

20. Oktober 2008
Am Kanal Gottes ist besser als unter Aposteln?

Sekten sind keine Denkfabriken. Sonst wären sie von Schließungen bedroht. Sind sie aber nicht. Nicht einmal die Zeugen Jehovas, die Jahr für Jahr Zehntausende aus ihrer Glaubensgemeinschaft feuern, weil es angeblich für die anderen am besten ist, wenn man ehemalige Mitglieder nicht einmal mehr grüßt. Das anordnen darf man: Dafür gibt es in Deutschland die Religionsfreiheit, die zu den Menschenrechten gehört und sogar dazu dienen darf, Menschenrechte mit Füßen zu treten. Schließlich wollen sie ins Paradies, in den Himmel kommen - da schaut man nicht nach hinten, nicht nach links oder rechts, sondern nach vorn und hofft auf Gottes Segen, der sich so äußert: in steigenden Mitgliederzahlen als Zeichen des göttlichen Wohlwollens, in sinkenden Mitgliederzahlen als Zeichen der Verfolgung, der nicht jeder standhält. Ein Bibelzitat findet sich immer.

Auch in Sekten gibt es Neid. Trennt sich jemand von ihnen und es geht ihm gut, heißt es: Das dicke Ende kommt noch. Geht es ihm schlecht, heißt es: Das musste ja so kommen. Es ist kein Heil - außer bei uns, bei den Zeugen Jehovas am Kanal Gottes, in der Neuapostolischen Kirche bei den Aposteln, die es auch bei den Mormonen gibt, doch wer weiß das schon so genau? Letztere haben zumindest Humor.

Als ich mit den Recherchen für mein erstes Buch über Sekten begonnen habe, rief ich die deutsche Zentrale dieser Glaubensgemeinschaft in Frankfurt an. Die wünschte mir viel Erfolg mit meinem Buch, mehr wollte sie aber nicht tun. Begründung: „Was wir lehren, können Sie nicht begreifen. Sie haben den Heiligen Geist nicht.“

Das ist möglicherweise ein Manko, aber hätte ich erst einmal überall Mitglied werden sollen, um über jede dieser Glaubensgemeinschaften schreiben zu können, die eins ganz sicher wissen: Die Welt geht unter - wahrscheinlich morgen schon. Das Ende ist seit 2000 Jahren immer sehr nahe gewesen.

Die Mormonen haben also Humor, die Zeugen Jehovas immer Angst. Als ich mich mit dem damaligen deutschen Vizechef Richard E. Kelsey vor dem Bahnhof in Wiesbaden traf, war seine erste Frage: „Wollen Sie Glaubensgemeinschaften zermahlen?“ Ich hätte nie gedacht, dass ich das könnte. Das kann niemand. Denn sonst gäbe es sie nicht mehr. Sie hätten sich längst selbst zermahlen.

Doch mit dem Glauben in Sekten ist das eine eigene Sache - er ist unerschütterlich, so lange man in der Lage ist, alle paar Jahre etwas anderes zu glauben. Das ist mir später bei Vorträgen bewusst geworden. Da standen Sektenmitglieder auf und behaupteten, alles was ich erzählt hätte, seien Lügen. Um das zu beweisen, hat die Neuapostolische Kirche eine Zeitlang sogar einen Anwalt nach dem anderen eingeschaltet.

Doch mein erstes Buch war 1989 auf dem Markt. Was also tun? Jemand, der damals noch neuapostolisch war, berichtete mir, in seinem Beisein sei Haarsträubendes über meine Veröffentlichung behauptet worden. Deshalb habe er mein Buch erst gelesen, als er ausgetreten war. Dabei stellte er fest: Derlei stand nun wirklich nicht drin.

Da Sekten keine Denkfabriken sind, denkt sich auch kaum jemand: Ich lese mal, was über uns so geschrieben wird. Lesen Sektenmitglieder es doch, ist das Urteil schnell gefällt: Alles nicht wahr.

23. Oktober 2008
Bücher verschwinden auf Postweg

Dann klingelt immer wieder mein Telefon. Leute beschweren sich darüber, dass sie mein Buch „Gift gegessen - Aussteiger aus Endzeitkirchen berichten“ zwar bestellt, aber nie bekommen haben.

“Was ist das denn für ein Verlag?“ fragen sie.

Doch mein Verleger aus Worms versichert mir, dass er bestellte Bücher auch abgeschickt habe. Aber: Rund 200 scheinen nie angekommen zu sein. Darüber berichtet auch die „Neue Presse“ aus Hannover, später eine Zeitschrift für Journalisten.

Auf die Veröffentlichung in der Journalisten-Zeitschrift reagiert ein Funktionär der Neuapostolischen Kirche mit einem Leserbrief und weist darauf hin, dass er schon lange Gewerkschaftsmitglied sei. Alles andere stimme nicht.

Manches jedoch kommt beim Empfänger an. Ein Leser aus Südniedersachsen macht aus meiner Veröffentlichung Papierschnipsel, steckt sie in einen Briefumschlag und fügt die Bitte bei, ich solle meinen Müll doch selbst entsorgen.

Nun reicht es mir. Ich wende mich an den internationalen Chef der Neuapostolischen Kirche (NAK). Der überlässt die Antwort einer Anwaltskanzlei aus Zürich. Die schreibt mir, dass Richard Fehr, so heißt Anfang der 1990er-Jahre der NAK-Chef, nicht wisse, was ich von ihm wolle. Schadenersatz werde er jedenfalls nicht leisten.

Immerhin: Nach den Presseveröffentlichungen über den merkwürdigen Bücherschwund kommt „Gift gegessen“ bei den Bestellerinnen und Bestellern an.

Ich schreibe derweil einen Fortsetzungsband, an dem sich ein Ex-NAK-Mitglied aus Herne beteiligt. Es bekommt den Titel „An ihren Früchten“. Es bleibt das einzige Buch, gegen das sich die Neuapostolische Kirche nicht mit Strafanträgen wendet.

24. Oktober 2008
Privatleben ausgeforscht

Das klingt lächerlich, aber sie haben es versucht: Die Neuapostolische Kirche (NAK) streute aus, dass ich zweimal geschieden sei. Ob sie glaubten, mich so unglaubwürdig zu machen, weiß ich nicht. Der Verdacht liegt nahe. Sie hatten also in meinem Privatleben herumgeforscht. Dafür muss es Gründe gegeben haben. Als mich ein NAK-Mitglied mit schlechtem Gewissen darüber informiert hatte, wendete ich mich an einige Spitzenfunktionäre dieser Glaubensgemeinschaft und bat sie um korrekte Weitergabe privater Details. Ich schrieb ihnen: „Ich bin nicht nur zweimal geschieden, ich bin sogar zum dritten Mal verheiratet.“ Den Brief haben sie abgeheftet, eine Antwort bekam ich nicht.

Auch mit dem Versuch, mir meinen Arbeitsplatz als Redakteur wegzunehmen, scheiterten sie. Meine Verlegerin hielt zu mir, der Fraktionsvorsitzende der CDU informierte mich über Anrufe von NAK-Mitgliedern, in denen er aufgefordert worden war, Druck zu machen.

Irgendwann werden die Ruhe geben, dachte ich mir. Doch ich sollte mich täuschen. In Süddeutschland tauchten Schreiben auf, die angeblich von mir stammten und in einem scharfen Ton verfasst worden waren. Das teilte mir ein weibliches Mitglied der NAK mit, die mir Passagen aus diesem Brief vorlas. Auch in Ostfriesland kursiere dieses Schreiben, sagte sie mir und nannte mir den Namen eines weiteren Empfängers.

Ich zögerte keine Sekunde: Ich rief ihn an. Er berichtete mir, dass er das Schreiben an die NAK-Zentrale weitergeleitet habe. Das stritt die auf Nachfrage gar nicht ab, kam meiner Bitte um Herausgabe des Briefes aber nicht nach.

Die Versuche, mich kalt zu stellen, hatten auch eine Kehrseite: Immer mehr ehemalige NAK-Mitglieder meldeten sich bei mir. Sie lieferten mir Literatur, private Briefe und andere Dokumente. Dann wurde ich wieder gewarnt. Dieses Mal von einem weiblichen NAK-Mitglied aus Nordrhein-Westfalen, das mein Buch zwar gekauft, aber nicht gelesen hatte. Die telefonische Begründung: „Ich habe Angst, dass ich mich versündige.“ Diese Gefahr bestehe für mich ebenfalls.

Das behaupteten sie sogar nach einem Vortrag in einer evangelischen Kirche. Ein Amtsträger der NAK verabschiedete sich von mir mit den Worten: „Hören Sie damit auf. Sie wissen ja, was ihnen blüht.“ Das hörte der Pfarrer, der nur einen Satz sagte: „In meiner Kirche wird niemandem gedroht.“

Zwischenzeitlich veräppelte mich der Studienkreis. Der Pressesprecher dieses Nachhilfeunternehmens versprach mir mündlich eine große Bestellung meiner Bücher, machte dann aber einen Rückzieher. Das Honorar hätte ich gut gebrauchen können, denn die Sektenarbeit wurde für mich immer teurer. Telefonate, Fahrten und Recherchen verschlangen viel Geld und zwischendurch wohnte bei uns auch noch eine Sektenaussteigerin mit ihrem Sohn, die sich an den Haushaltskosten nicht beteiligen konnte, weil sie jeden Pfennig einem fundamentalistischen Prediger aus Frankfurt in den Rachen geworfen hatte.

Die gab es auch noch: Sektenaussteigerinnen und Sektenaussteiger, die behaupteten, ich wolle mit meinen Büchern nur berühmt und reich werden…

Dazu spannende Antworten

25. Oktober 2008
Bloß nicht stehen bleiben!

„´Spontanität und freie Rede sind wichtige Bestandteile der Predigt. ´Die Rede kann so vom Heiligen Geist inspiriert werden´, erklärt Gemeindevorsteher Reiner Dombrowski. Die Legitimation zum Predigen leitet sich dabei nicht von einer akademischen Ausbildung zum Theologen ab, sondern ´allein durch den Ruf Gottes´ und die Ernennung zum Amtsträger durch einen so genannten Apostel.“ Mit diesen Zeilen aus der Feder einer Redakteurin des „Kölner Stadtanzeigers“ wird das Selbstverständnis der Neuapostolischen Kirche gut dargestellt (Ausgabe vom 24. Oktober 2008).

Glaubt man von Kindesbeinen an, dass in dieser Glaubensgemeinschaft Gott zu einem spricht, kann das eine Zeitlang Sicherheit und Geborgenheit schenken. Gerät man jedoch in Widerspruch zu den Predigten, kommt es zu Gewissenskonflikten. Folgt man der eigenen Überzeugung, müssen viele erst einmal die Wahnvorstellung abschütteln, Gott werde einen dafür bestrafen.

In Beratungsgesprächen habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Mitglieder der Neuapostolischen Kirche (NAK) so gut wie nichts über die Geschichte ihrer Glaubensgemeinschaft wissen. Für sie gilt: Sie begnügen sich mit dem oben dargestellten Selbstverständnis, bis sie feststellen, dass etwas nicht stimmen kann. Eine Frage hat die nächste zur Folge und der Weg ist beschwerlich, zumal laut NAK-Lehre angeblich überall der Teufel nur darauf lauert, jemanden in die Irre zu führen.

So rigoros wie die Zeugen Jehovas ist die NAK zwar nicht mehr, Ex-Mitglieder werden nicht zu „Unpersonen“ erklärt, mit denen man keinen Kontakt mehr haben darf, aber die Zahl der Verständigungsbrücken sinkt fast schon zwangsläufig. Irgendwie ist es wie zu Zeiten der DDR. Führte man seinerzeit Diskussionen in Leipzig oder anderswo, begriff man schnell, dass bestimmte Begriffe ganz unterschiedlich interpretiert wurden. Das fing bei „Demokratie“ an und endete noch lange nicht bei „Freiheit“.

Kehrt jemand zu den christlichen Wurzeln zurück oder wendet er sich von dieser Weltreligion ab, muss er Wörtern als ehemaliges NAK-Mitglied oder als Ex-Zeuge Jehova eine neue Bedeutung geben - oder er verharrt in einem wankelmütigen Zustand, der krank machen kann.

Einig sind sich beide Glaubensgemeinschaften bis vor kurzem darin gewesen, dass die Menschheitsgeschichte 6000 Jahre dauert. Doch die sind um. Die Neuapostolische Kirche lässt deswegen diese jahrzehntelange Grundüberzeugung in Vergessenheit geraten, die Zeugen Jehovas klammern sich noch an das Jahr 1914, dessen Bedeutung immer wieder neu interpretiert wird. Man kann sich jedoch an fünf Fingern ausrechnen, wann sich 1914 zu den vielen Irrtümern dieser Glaubensgemeinschaft gesellt.

Was bleibt, ist (noch): Man gehört zur einzig wahren Kirche. Doch was ist Wahrheit? Kann sie zur Lüge werden? Wie die Behauptung des dritten Kirchenpräsidenten der NAK, er werde nicht sterben, weil Jesus zu seinen Lebzeiten wieder kommt? Nach seinem Tod im Jahre 1960 haben sich NAK-Mitglieder aus Verzweiflung umgebracht, andere suchten Hilfe bei der evangelischen Kirche. Erst einmal stehen bleiben und über das Geschehene nachdenken, verbot sich in der NAK fast schon von selbst, weil niemand in dieser Glaubensgemeinschaft weiß, wo Denkprozesse enden. Das verbot sich auch für die Zeugen Jehovas, als die Welt 1975 doch nicht unterging.

Man lief weiter und vergaß die Opfer.

29. Oktober 2008
Die sozialen Kosten trägt die Gesellschaft

So ist es mir auch einmal gegangen: Wenn ich den Begriff Zeugen Jehovas hörte, dachte ich an Frauen und Männer, die in Fußgängerzonen stehen, bunt bebilderte Zeitschriften anbieten und einen verlorenen Eindruck machen. Als ich während meiner Arbeit als ehrenamtlicher Berater von Sektenaussteigerinnen und Sektenaussteigern erfuhr, dass diese Frauen und Männer am Verkaufserfolg gemessen wurden, steckte ich hin und wieder einer älteren Dame vor dem Kaufhof in Hannover eine Mark zu und nahm „Wachtturm“ und „Erwachet!“ mit. Damals kosteten diese Zeitschriften noch. Das änderte sich, als Kritiker die Frage stellten: Wenn „Wachtturm“ und „Erwachet!“ bezahlt werden sollen, handelt es sich dann bei der Druckerei in Selters bei Wiesbaden um einen kommerziellen Betrieb der Zeugen Jehovas?

Diese Frage war berechtigt, denn auch die Neuapostolische Kirche hat einen Verlag, der Zeitschriften und Bücher veröffentlicht. Sitz ist Frankfurt. Bei diesem Verlag handelt es sich um eine GmbH, die Steuern zahlt und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mindestens nach Tarif bezahlt. In der Druckerei der Zeugen Jehovas dagegen arbeitet man für „Gottes Lohn“ und bekommt ein Taschengeld. Bei der Bibel- und Traktat-Gesellschaft der Zeugen Jehovas handelt es sich nämlich um einen eingetragenen Verein.

Für diesen Verein gearbeitet hatte auch ein Anrufer, der sich während meiner Recherchen für mein zweites Sekten-Buch „An ihren Früchten“ meldete. Da er immer kritischer geworden war, berichtete er mir, war er ausgeschlossen worden und lebte von Sozialhilfe. Bei den Zeugen Jehovas kümmerte das niemanden. Sie hatten ein fleißiges Mitglied verloren, mehr war für diese Glaubensgemeinschaft nicht geschehen.

Die sozialen Kosten trägt die Gesellschaft, die ansonsten von den Zeugen Jehovas verachtet wird. Die besteht nach Auffassung dieser Glaubensgemeinschaft vornehmlich aus „bösen, sterblichen Menschen“ („Erwachet!“, April 2008). Dieses Feindbild kann psychisch krank machen und wirkt sich auch schon auf die Erziehung der Kinder aus. Schläge sind bei den Zeugen Jehovas keinesfalls tabu, wenn die Gefahr besteht, dass sich der Nachwuchs anderweitig umschauen will.

Mitglieder der Zeugen Jehovas und der Neuapostolischen Kirche leben in einer merkwürdigen Welt: Auf der einen Seite gibt es Gott, der für eine tolle Zukunft sorgt, wenn man den Leuten folgt, die von oben herab behaupten, dass sie in seinem Namen sprechen, auf der anderen Seite lauert der Teufel, der jeden ins Verderben stürzen will und dafür so manche Verlockung in petto hat. Einfach gesagt: Für fast alles, was Spaß macht, ist der Teufel zuständig.

Die Frage, warum sich ehemalige Mitglieder dieser Glaubensgemeinschaften eine Zeitlang als etwas Besonders gefühlt haben, konnte mir niemand beantworten. Fragt man dann auch noch, ob die Vorstellung, dass alle anderen eines Tages vernichtet werden, während man es sich selbst gut gehen lässt, nicht menschenverachtend ist, dauert das Schweigen noch länger.

1. November 2008
Streng religiös = schneller krank?

Einige Versorgungsämter erkennen inzwischen an: Die Mitgliedschaft in Sekten kann zu seelischen Behinderungen führen. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass strenge religiöse Erziehung die Wahrscheinlichkeit psychischer Krankheiten erhöht. Deswegen bin ich bei meiner Arbeit als Berater von Sektenaussteigerinnen und Sektenaussteigern oft an Grenzen gestoßen. Gelegentlich blieb mir nur der Rat: “Gehen Sie zu einem Therapeuten.” Doch die sind auf diesem Gebiet rar gesät.

Dabei ist oft schnelle Hilfe erforderlich. Eine Frau, die in die Fänge eines fanatischen Predigers geraten war, fühlte sich von Dämonen verfolgt und konnte nur noch schlafen, wenn das Licht brannte. Wenn sie allein war, vertrieb sie ihre Angst mit Telefongesprächen und redete ihre Rechnungen in Schwindel erregende Höhen, bis sie finanziell ausgeblutet war.

Solche Prediger und Sekten haben darauf eine einfache Antwort. Ein Beispiel dafür ist eine Geschichte aus der neuapostolischen Zeitschrift “Unsere Familie” vom 20. Juni 2006. Die neigt sich so dem Ende zu: “Kaum betraten die Geschwister den Raum, wurde eine Tür geöffnet und heraus trat der Bezirksapostel, umgeben von etlichen Brüdern. Er reichte Schwester Schweiger die Hand, und ohne etwas von ihren Sorgen zu wissen, wünschte er ihr alles Gute. Schwester Schweiger fühlte augenblicklich, wie sie von einer starken Kraft durchzogen wurde. In der großen Hoffnung, dass nun manches besser würde, ging sie ihres Weges, voller Staunen darüber, wie minutiös der liebe Gott arbeiten kann.”


Auch in anderen Geschichten, die man sich in dieser Glaubensgemeinschaft erzählt, lösen sich Probleme irgendwann in Luft auf. Ein fieser Abteilungsleiter wechselt plötzlich die Firma, ein anderer kämmt seine Befürchtungen jeden Morgen einfach weg: “Immer wenn ich mich morgens kämme und im Kamm so viele Haare sehe, dann freue ich mich: Gott denkt an mich. Er weiß, wie viele Haare wir auf dem Kopf haben. Ist das nicht wohltuend?” (NAK-Apostel Franz-Wilhelm Otten am 7. Mai 2006 in Dieburg)

Die Kehrseite der Medaille ist: Mit dem Bild von einem Gott, der derart minutiös arbeiten kann und sogar schon bei der Morgentoilette mit kämmt, kann Angst erzeugt werden, wenn ein Sektenmitglied meint, es habe sich falsch verhalten.

Hinzu kommen der Teufel, Geister und Dämonen. Besonders eifrig bei der Verbreitung des Dämonenglaubens sind die Zeugen Jehovas. Diese Glaubensgemeinschaft verbreitet derart haarsträubende Geschichten, dass ich sie keinem Kind vorlesen würde.

Bei Gesprächen mit Sektenaussteigerinnen und Sektenaussteigern habe ich deswegen oft genug Vorstellungen gegen den Strich gebürstet. Fakt ist: Der achte Chef der Neuapostolischen Kirche (NAK) heißt Wilhelm Leber, er ist Doktor der Mathematik und 61 Jahre alt. Da wären Fragen angebracht.

Denn: Als Wilhelm Leber drei Jahre alt war, stand vorne ein über 80 Jahre alter Mann, der den Gemeinden einhämmerte und einhämmern ließ: “Ich sterbe nicht mehr. Jesus kommt zu meinen Lebzeiten wieder.” Jede Sekunde könne es so weit sein, deswegen dürfe in der Neuapostolischen Kirche niemand mehr auf das Irdische blicken. Verbunden mit diesem Ratschlag wurden Drohungen. In jede Predigt wurden schlimmste Weltuntergangsszenarien eingebaut.

Das hat viele Mitglieder der Neuapostolischen Kirche derart beeindruckt, dass sie keine Häuser mehr bauten und sich bei der Schulbildung mit dem Allernotwendigsten begnügten. Dazu gehörte Wilhelm Leber aber offensichtlich nicht. Er machte Abitur und studierte später Mathematik. 1972 heiratete er die Enkelin jenes Mannes, der 1960 trotz seiner Behauptungen gestorben war. Die Nachfolge trat jemand an, der bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt als derjenige galt, der nun wirklich der letzte Kirchenchef der Neuapostolischen Kirche war. Wilhelm Leber muss davon ausgegangen sein, dass es auch anders kommen könnte…

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